10.07.2021 13:25:00 [Wilhelm Töff I SCHWEIZ DEUTSCHLAND ÖSTERREICH]
Verdun, Versailles, Paris… Wer seine Geschichte nicht kennt, ist gezwungen, sie zu wiederholen. Gut, dass Reisen bildet...
Ab nach Paris… So lautete der griffige Slogan der deutschen Propaganda zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Auf unserer siebten Reise in die Seinemetropole möchten wir den Spuren einer Generation, für die Heldentum und Patriotismus in einem grausamen Stellungskrieg endeten, folgen.
Zum VIDEO auf das Bild klicken: Das Schlachtfeld von Verdun - meine Impressionen - mit GPS-Download
Die grösste Landschlacht der Erde
Verdun, 21. 2. 1916. Punkt 7 Uhr erschüttert eine gewaltige Detonation die Stadt an der Maas. Ein Granateinschlag in der Nähe der Kathedrale markiert den makabren Startschuss einer der grössten Menschheitstragödien. 12 Minuten später bricht vor den Toren der Stadt die Hölle los. Ein infernalisches Trommelfeuer aus 1200 Geschützen und Minenwerfern aller Kaliber hagelt auf die in Sichtweite der Stadt liegenden Maashöhen nieder. 105 Jahre ist es nun her, dass die Schlacht um Verdun begann. Die Verbissenheit, mit der hier Franzosen und Deutsche, Mann gegen Mann kämpften, entsprang der in beiden Lagern vertretenen Überzeugung, dass sich hier das Schicksal des Ersten Weltkrieges entscheide: Wenn die Westfront bei Verdun durchbrochen würde, könnte die deutsche Armee schon 14 Tage später in Paris einmarschieren. Die grösste Landschlacht der Menschheit sollte sich hier in einem blutigen Stellungskrieg ohne nennenswerte Geländegewinne für beide Seiten bis ins Jahr 1918 hinziehen.
Ungefähr sechs Millionen Soldaten gerieten in die Mühle von Verdun. Es ist schier unmöglich, sich Not, Qual und Elend vorzustellen, das die Soldaten der beiden Krieg führenden Nationen hier erleben mussten. Ständig hielten sechshunderttausend Mann unter furchtbaren Verhältnissen in den Granattrichtern aus, die auf beiden Seiten dicht an dicht die Frontlinie bildeten. Die Hölle von Verdun – eine irrsinnige Folge von Angriffen und Gegenangriffen, die im Schlamm stecken blieben. Bei den Kämpfen um Verdun starben 700 000 Mann. 8,2 Millionen Granaten. Diese unvorstellbare Menge verschiesst die Armee des deutschen Kaisers während ihrer ersten Offensive vom 21. 2. bis 20. 4. 1916 – also innerhalb acht Wochen. Schon am ersten Tag der Schlacht gehen zirka 936 000 Geschosse auf die französischen Stellungen nieder. Das Stahlgewitter dauert über neun Stunden. Grösste Kaliber sollen die Forts der Festung Verdun sturmreif schiessen: 30,5- und 42-cm-Mörser sowie 38-cm-Marinegeschütze. in Panzerzügen.
So etwas hat die Welt noch nicht gesehen: Bis 1918 erschütterten die Front insgesamt 62 Millionen Granateinschläge. Jeder Quadratmeter wird mehrmals umgepflügt, Wälder werden umgemäht, Erde spritzt hoch.
Die neue Taktik der Militärs beruht auf der Theorie vom so genannten «sparsamen Einsatz der Infanterie» dank der zerstörerischen «Vorarbeit» der Artillerie. Die Folgen des Trommelfeuers sind bereits am ersten Tag verheerend: Nach neun Stunden Artilleriebeschuss überleben von den 1300 französischen Verteidigern im Wald von Caures nur ungefähr 100.
17 Uhr. Es ist schlagartig totenstill. Dann greifen drei deutsche Infanteriekorps auf 12 Kilometer Breite an.
Jeder der deutschen Infanteristen ist ausgerüstet mit Sturmgepäck, Militärmantel, eingerollter Zeltplane, Brotbeutel mit zwei Tagesrationen frischer Lebensmittel und zwei Reserverationen, mit hundertfünfzig Schuss Munition in den Patronentaschen, drei Stielhandgranaten, einem Paket leerer Erdsäcke, Schanzzeug und einer Gasmaske am Leibriemen. Die Pioniere sind zusätzlich mit Drahtscheren, Sprengstoff und Flammenwerfern bewaffnet. Sturmangriff. Die französischen Linien werden durchbrochen, formieren sich neu, weichen zurück. Die Deutschen sind überrascht: Die wenigen überlebenden französischen Soldaten kämpfen mit dem Mut der Verzweiflung. Am 22. 2. setzt das deutsche Artilleriefeuer bei Schneefall wieder ein und steigert sich zunehmend. Am 24. 2. sind die Franzosen, welche innerhalb weniger Tage 20 000 Soldaten, also 50 Prozent der eiligst einberufenen Männer, verloren haben, am Ende ihrer Kräfte. Am 25. 2. steht die französische Armee vierundzwanzig Stunden lang um Haaresbreite vor der Niederlage.
Nach fünf Tagen Offensive ist die äusserste Spitze des deutschen Angriffskeils, der sich aus einer Entfernung von 13,5 Kilometern nördlich von Verdun vorzuschieben begann, nur noch 5,2 Kilometer entfernt. Das Fort Douaumont geht den Franzosen kampflos verloren. Die beiden Armeen verbeissen sich zunehmend in einen grauenhaften Stellungskrieg. Ein weiteres Befestigungswerk fällt in die Hände der kaiserlichen deutschen Armee: das Fort de Vaux.
Trotz unbeschreiblicher Verluste halten die anderen französischen Festungen unter dem Befehl des Generals Pétain stand. Zu welchem Preis, lässt sich sehr gut anhand der Ereignisse rund um das einst 400 Einwohner zählende Dorf Fleury verdeutlichen. Das Dorf war idyllisch auf einer Anhöhe und in Sichtweite der Stadt Verdun, aber dummerweise im Zentrum eines Festungsvierecks gelegen. Heute erinnern eine Gedenksäule und eine Kapelle daran, dass an dieser Stelle Fleury komplett ausradiert wurde – übrigens nur eines von acht Dörfern im Kampfgebiet von Verdun. Fleury wurde zum Brennpunkt einer schrecklichen Schlacht zwischen dem 23. Juni und dem 11. Juli, als die deutsche Armee versuchte, diesen überaus wichtigen Hügelkamm samt der Ansiedlung zu nehmen. Das Dorf Fleury bildete die Schlüsselstellung für den Durchbruch nach Verdun. Die Anhöhe gleicht während dreier Wochen einem feuerspeienden Vulkan:
Auch auf Seiten der Achsenmächte waren Soldaten aller Konfessionen im Kampf.
Schrapnellrauch, gelbe, rote, grüne Leuchtraketen, die der Artillerie melden, das Feuer zu eröffnen oder einzustellen, Leuchtkugeln, die den ganzen Abschnitt in bleiches Magnesiumlicht tauchen. Tag und Nacht explodieren Granaten und hinterlassen roten Feuerschein und schwarzen Rauch – es herrscht ein höllischer Lärm: Heimtückische Zeitzünder gehen hoch. Flammen schiessen in die Höhe.
Herannahende Granaten heulen, singen, pfeifen oder brüllen. Die Luft ist eisenhaltig: Granatsplitter zischen durch die Luft. Überall liegen Tote, schwarz, von Blut und Schlamm bedeckt.
Leichenteile hängen in den letzten Bäumen, die dem Feuersturm noch trotzen. Dazwischen zerrissene Drahtverhaue, Trichter. Die Sinnlosigkeit des Krieges hat einen Namen: Fleury. Franzosen, Deutsche … Nicht weniger als 16-mal wechselt Fleury den Besitzer. 10000 Tote und Verstümmelte sind der Preis für wenige Meter Geländegewinn, der oft nur Stunden später durch einen Gegenangriff schon wieder verloren ist. Dabei gibt es im zerschossenen Trichterfeld längst keine Spur vom Dorf mehr.
MG-Schützen liegen tot neben ihren zersplitterten Maschinengewehren, den Inhalt ihrer Munitionskästen um sie herum verstreut. Viele sind von den Granaten immer wieder umgedreht worden.
Bald wird von diesen geschundenen Leibern nichts mehr übrig bleiben. Das Einzige, was nach dem Krieg vom Dorf noch gefunden wird, sind ein paar Splitter einer Nähmaschine und vom Kreuz der Kirche – das war’s … Doch auf Fleury braust wie überall auf dem Schlachtfeld ein noch höllischeres Trommelfeuer nieder: Gas. 100 000 Granaten in nur zwei Tagen! Nach ihrer Detonation verbreitet sich schleichend ein Geruch von Knoblauch, Chlor und Ester, der bald zu einer zerfetzten, am Boden hinkriechenden tödlichen Wolke wird: Franzosen und Deutsche erleben hier wie überall an der Front die Hölle. Und was die Generäle unter dem Namen Stützpunkt durch einen scharfen Strich darstellten, ist in Wirklichkeit oft nichts weiter als ein schlammiges Loch, worin die Soldaten Tag und Nacht leben, kämpfen und sterben müssen. Läuse, Ratten, Ruhr, Durchfall, Erbrochenes und überall Tote und Verwundete. Wenn es regnet, werden die Laufgräben und Granattrichter zu einer mit stinkendem Schlamm gefüllten Kloake, worin der kämpfende Soldat bis zu den Knien versinkt.
Tod, Leiden, Verzweiflung und Verderben - das ist die Realität Krieges ...
Unvorstellbare menschliche Tragödien finden hier statt: Verwundete irren durch die Schlammwüste. Giftgas hat ihnen die Augen geblendet und die Lungen verbrannt. Wo ist der Verbandplatz? Wer könnte helfen? Niemand.
Mit allen Kräften wehren sich diese Menschen noch gegen ihr unvermeidliches Schicksal. Viele dieser bedauernswerten Kreaturen sind einfach im Schlamm versunken und für immer verschwunden. Von ihnen ist nichts geblieben als ein Wort im Tagesbericht auf beiden Seiten des Frontabschnitts: vermisst. Im Sommer dagegen waren die Soldaten ausgedörrt vor Durst. Ein Augenzeuge: «Überall suchte man nach Wasser. Niemand hatte welches. Ein Granattrichter mit grünem Wasser, das nach Leichen roch, zog uns an, aber die gegnerischen Maschinengewehre hielten ihn unter Beschuss. Alle, die trotzdem hinkrochen, bildeten bald einen Kranz von Leichen darum.» So viel psychisches und physisches Unglück machte das Vorrücken an die Front für die meist kaum 20-jährigen Soldaten auf beiden Seiten zu einer harten Prüfung. Manchmal äusserte der Kämpfende sein Unbehagen auf spitzfindige Weise: Die Soldaten des französischen I.R. 119 beispielsweise fingen eines Tages an zu blöken wie Schafe, die man zum Schlachthof führt. Es dauerte nicht lange, und die ganze Division war davon angesteckt. Unheimlich tönte das klägliche Blöken dieser Leute, die in den Gräben in Stellung gingen. Besonders für die Offiziere:
Die Propaganda hat es verschwiegen, aber Meutereien gab es bei den kriegsmüden Soldaten tatsächlich. Dann wurden Exempel statuiert: Tod durch Erschiessen oder die Teilnahme an einem Himmelfahrtskommando, so lautete meist das Urteil.
Doch die Rückkehr von der Front war oft noch tragischer als der Anmarsch: «Ich bin hier mit 175 Mann abgerückt. Ich kehre zurück mit 34, die Hälfte davon ist verrückt» (Hauptmann Cochin nach seiner Rückkehr von der Höhe Toter Mann, April 1916).
... DIE MOTORRADREISE ZUR HÖLLE
Verdun. Dort erwartet uns, was kaum einem Europäer bewusst ist: das grösste Schlachtfeld der Erde.
Ja, ich gebe es zu: Ich bin ein schlechter Patriot. Sechsmal Paris besucht, aber noch nie Berlin. Vielleicht bezahle ich auch deshalb als Schwabe meine Steuern lieber in der Schweiz. Nicht dass Berlin ohne Reiz wäre, aber der Töff fährt wie von selbst wieder mal Richtung Westen. Auch meine Sozia ist der Meinung, dass die Stadt der Liebe eine siebte Reise wert ist. Aber vor dem Vergnügen Paris steht dieses Mal der Schweiss: Der Lingekopf in den Vogesen, die Stadt Verdun und Versailles. Denn wer wie ich in der Schweiz arbeitet und in einer multikulturellen Beziehung lebt, hat trotz – oder gerade wegen – der Freude darüber das Bedürfnis, dem Schweizer Partner etwas mehr als nur die üblichen Klischees deutscher Kultur und Geschichte zu vermitteln.
Route des Crêtes
Kurz hinter Mulhouse schlängelt sich unser Sechzylinder-Paris-Express in weiten Kehren den ersten Vogesenkamm hinauf. Die Umgebung ist herrlich: Anfangs führt die D 431 als liebliche Weinstrasse durch Rebhänge und das Weindorf Cernay. Wenige Kilometer weiter wartet ein über die Grenzen hinaus bekanntes Töfflerparadies: Die Panoramastrasse in den südlichen Vogesen zählt zu den schönsten Töff-Strecken Europas. Über 70 Kilometer verläuft das gut ausgebaute Asphaltband auf über 1000 Meter Höhe zwischen dem Lac Blanc und Cernay. Endlos beinahe reihen sich die Kurven aneinander, einmal weit, offen und schnell, dann wieder unübersichtlich, eng und langsam. Herrliche Wälder säumen die Hänge, und türkisgrüne Seen in den Tälern laden zum Baden ein. Alte Burgen, Schluchten und Pässe – und im Tal die Fachwerkhäuser, über denen Störche ihre Kreise ziehen –, so kennen es viele, das Elsass.
Gabi kann es kaum fassen, dass ausgerechnet in diese Töff-Idylle meine kriegerische Geschichte einbricht: Denn was kaum jemand auf der herrlichen Kurvenjagd
realisiert, ist, dass die «Route» keineswegs auf Vorschlag cleverer Fremdenverkehrsfachleute
angelegt wurde. Ganz im Gegenteil. Es war die französische Armee, die während des Krieges 1914–1918 diese Strecke als strategische Nord-Süd-Verbindung in Auftrag gab: als militärische Höhenstrasse zur Verteidigung gegen die, wie es damals hiess, «Barbaren im Osten».
Darum also ist die Route des Crêtes bei Töfflern so beliebt, weil sie in erster Linie
keine Orte, sondern (strategisch wichtige) Höhenzüge untereinander verbindet.
Hartmannsweilerkopf
Einer davon ist der 956 Meter hohe Hartmannsweilerkopf am südlichen Anfang
der Route. Im Ersten Weltkrieg war er hart umkämpft, wurde erobert und zurückerobert.
Wer auf der Serpentinenstrecke von Mulhouse einen kurzen Blick neben die Strasse riskiert, findet den Beweis: Auch über 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges ist der Waldboden noch immer eine einzige Trichterlandschaft. Nicht zu übersehen ist auch der direkt an der Strasse gelegene grosse Ehrenfriedhof auf der Passhöhe für die gefallenen französischen Soldaten. Die Krypta davor erinnert an deutsche und französische Gefallene, die nicht identifiziert werden konnten. Wir beschliessen, die Goldwing vor der eindrucksvollen Gedenkstätte etwas länger abkühlen zu lassen. Der kurze Fussmarsch zum Gipfel lohnt. Die Aussicht auf Mulhouse ist überwältigend. Doch ein gut erhaltenes System von Schützengräben und Tausende mit Gras überwachsene Granattrichter zwingen den Besucher hinein in den Irrsinn, der sich auf diesem Berg abgespielt hat. Nur zwanzig Meter sind die vordersten Stellungen der Gegner voneinanvoneinander entfernt. Hier wie auch auf dem nur wenige Kilometer entfernten Lingekopf fanden nicht etwa nur kurze Scharmützel statt – der Kampf tobte fast vier lange Jahre, aber ohne Geländegewinne. Ziel: die Kontrolle eines Gebietes von der Grösse eines Fussbaldfeldes. Diese Erde ist mit dem Blut von über 30 000 Menschen getränkt. Weitere Höhenzüge in den Vogesen und auch die Maashöhen vor Verdun wurden zu wahren Massengräbern für die oft gerade mal 20-jährigen Soldaten.
Hartmannsweilerkopf, Elsass: Diese Erde ist mit dem Blut von über 30 000 Menschen getränkt.
Harter Tobak
Als wir wieder auf der bequemen Sitzbank der Goldwing Platz genommen haben, fehlen uns die Worte. Harter Tobak ist die Geschichte des alten Europa für uns. Wir verlassen die Gedenkstätte nicht ohne den Gedanken «Nie wieder Krieg», doch was haben die Menschen bis heute daraus gelernt? Ein weiterer Weltkrieg, und der nächste fängt vielleicht gerade an?
Das sorglose Getümmel auf der Route des Crêtes zieht uns Gott sei Dank bald aus der depressiven Stimmung und die Goldwing freudig in Schräglage.
Abends sitzen wir bei einem Glas Wein und elsässischen Spezialitäten in den Gassen des malerischen Winzerortes Riquewihr. Trotz eines lauen Sommerlüftchens und zahlreichen Touristen aus aller Welt lassen uns die heutigen Erlebnisse nicht los. Nicht nur Gabi fragt sich, ob wir uns Tote und Schlachtfelder weiter antun wollen. Schliesslich fahren wir morgen nach Verdun. Dort erwartet uns, was kaum einem Europäer bewusst ist: das grösste Schlachtfeld der Erde. Klar, die grösste Bugatti- Sammlung im Automuseum von Mulhouse oder der Besuch der mittelalterlichen Stadt Colmar wirkt erbaulicher auf uns als Tote auf Schlachtfeldern. Aber wie sagte doch ein schlauer Kopf: Wer seine eigene Geschichte nicht richtig kennt, ist gezwungen, sie zu wiederholen. Gut also, dass Reisen bildet. Aber Vorsicht: Eine Motorradtour zur blutigen Realität unserer Grossväter lässt sich tatsächlich kaum ohne gänzlich bedrückte Stimmung ertragen – ausser man gönnt sich selbst immer wieder Erholungspausen von der sinnlos geopferten Generation. Lokalitäten dafür gibt es genug: Sei es die kleine französische Dorfbar, sei es eine Stadtbesichtigung oder ein Besuch des Disneyoder Asterixparks vor den Toren von Paris – und natürlich die Seinemetropole selbst.
Mit dem Töff werden gottlob sogar die Verbindungsstrecken zur erfrischenden Kraftquelle für Zeitreisende. Tags darauf cruisen wir gemütlich durch die letzten Ausläufer der Vogesen Richtung Nordwesten, vorbei an Metz. Die Hügellandschaft zwischen Maas und Mosel steigert unsere Urlaubslaune erheblich, und die Wing taucht mit ihrer Besatzung ein in die Provinz Frankreichs, wo die Uhren noch anders ticken. In den Dörfern entlang unserer Nebenstrecke scheint die Zeit stillzustehen. Nur selten kommt uns ein Fahrzeug entgegen. Vorbei an neongelb leuchtenden Rapsfeldern folgen wir der kerzengeraden D 904 nach Toul. Soll noch einer sagen, Lothringen besteht nur aus Fabrikschloten und Schlachtfeldern. Auf dem Campingplatz in Verdun erwarten uns dann doch die ersten Touristenbroschüren mit bedrückenden Fotos vom Schlachtfeld vor den Toren der Stadt.
Eine Motorradtour zur blutigen Realität unserer Grossväter lässt sich tatsächlich kaum ohne gänzlich bedrückte Stimmung ertragen.
Verdun und Versailles
Wie kann es sein, dass französische Städte das Schicksal Deutschlands, ja Europas so massgeblich beeinflusst haben?», fragt sich Gabi. Im Falle Versailles sind es die Ereignisse von 1871, welche am Ende des ersten deutsch-französischen Krieges in der Stadt des Sonnenkönigs zur Proklamation des Deutschen Reiches geführt haben. Es hat schon etwas mit der den Deutschen nachgesagten Arroganz zu tun, dass ausgerechnet die Gründung des deutschen Reiches im besiegten Frankreich verkündet wurde. Eine Demütigung des Gegners. Und das Elsass fiel nach 232 Jahren französischer Herrschaft wieder an Deutschland. Frankreich und Deutschland wurden Erzfeinde. Zwei weitere Kriege mit Millionen Toten mussten noch folgen, bis dieser Hass endlich überwunden werden konnte. Heute sind die beiden Nationen Freunde. Die Herzlichkeit und Unvoreingenommenheit, mit der man als Deutscher in Frankreich behandelt wird, könnte als positives Beispiel für Europa und Menschen verfeindeter Volksgruppen in den Krisenherden der Welt dienen.
Die Botschaft von Verdun? Krieg ist keineswegs die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, wie der preussische General Carl von Clausewitz postulierte, sondern das Versagen derselben.
Im Geiste dieser Botschaft sehen sich die Stifter des Gebeinhauses von Verdun: Die Gedenkstätte wurde zur letzten Ruhe von 130 000 unbekannten deutschen und französischen Soldaten. Und Verdun ist Gott sei Dank auch nach fast 90 Jahren weiterhin im Gedächtnis der Politik des alten Europa präsent. Die vielen Opfer waren so gesehen nicht ganz umsonst. Mit dieser Erkenntnis ertragen wir besser, was uns die Besichtigung des Schlachtfeldes von Verdun abfordert: Unvorstellbar ist das Leiden, das beispielsweise im Fort de Vaux beim Kampf um einzelne Gangabschnitte innerhalb der Kasematten der Festung herrschte. 14 Tage lang Gas, Flammenwerfer, Maschinengewehre.
Am heftigsten bewegt uns aber die Besichtigung des Dorfes Vauban. Hier fand der berüchtigte Minenkrieg statt. Die Strategie: Mittels unterirdischer Stollen unter die gegnerischen Linien, dann in die Luft sprengen. Die Deutschen sprengten zuerst: Nicht weniger als 70 Tonnen Sprengstoff reissen einen 30 Meter tiefen Krater, wo vorher noch die Stellungen der Franzosen waren. Die erste deutsche Linie fliegt gleich mit in die Luft. Danach kommt eine wahnwitzige Rüstungsspirale in Gang: Stollen, Gegenstollen. Wer zündet zuerst? Dieser Horror sollte sich in Vauban über zwei Jahre hinziehen. Das Dorf ist vollständig pulverisiert worden. Man hat nichts mehr davon gefunden.
Paris
Die Weiterfahrt durch die Champagne zwischen Epernay und Sézanne stimmt uns endlich auf die quirlige Metropole Paris ein. Zu beiden Seiten der Strasse sind die Rebstöcke für den Champagner zu sehen, den wir vielleicht bald im weltberühmten Lido in auf den Champs-Élysées trinken werden. Wir befinden uns in der Heimat des edlen Getränkes. Einige der Felder ziehen sich bis zum Horizont. Wenig später kämpfen wir uns durch die Probleme des 21. Jahrhunderts: überfüllte Strassen, zahllose Verkehrskreisel und die Rushhour einer Millionenmetropole. Hier braucht es schon ein wenig Mut, es mit dem 1800er-Dickschiff den französischen Motards gleichzutun: Die brausen mit gut 40 bis 60 km/h zwischen den Kolonnen auf der sechsspurigen Ringautobahn durch. Klasse! Auch die Dicke passt durch. Zwischen Überholspur und zweiter Spur schaffen die Pariser Autofahrer eine Gasse. Trotz des toleranten «laisser-faire» brauchen wir eine Stunde, um endlich unser Camp in Versailles zu erreichen. Puh, geschafft! Wir geniessen die Ruhe des idyllisch mitten in einem Eichenwald gelegenen Zeltplatzes. Morgen geben wir uns das volle Paris-Programm. Töff-Reisen bildet eben nicht nur – es macht auch Spass.
++++REISEINFOS++++
GESCHICHTE: Erster Weltkrieg: 28. 6. 1914: Der österreichische Thronfolger wird in Sarajevo ermordet. Österreich- Ungarn stellt ein Ultimatum an Serbien, die Schuldigen zu bestrafen. Dieses bleibt ohne Reaktion. 28. 7.: Österreich erklärt Serbien den Krieg. Nun folgen postwendend die Kriegserklärungen der Mittelmächte (Österreich, Deutschland, Türkei) gegen die Entente (Frankreich, England, Japan, Russland). Bis zum Waffenstillstand am 11. 11. 1918 sterben fast 15 Millionen Menschen. Der deutsche Kaiser muss abdanken. Der harte Versailler Friedensvertrag bricht der jungen deutschen Demokratie schon bei der Geburt das Genick und bereitet den Weg für das Naziregime. 1.Wk-Web-Sites: www.stahlgewitter. com; vogesenkaempfe14- 18.de; www.verdun14- 18.de; www.versailler- vertrag.de.
ÜERNACHTEN: Das Angebot reicht von Zeltplätzen über Gästezimmer (Chambres d’Hôtes) bis zu Hotels aller Kategorien. Zu empfehlen ist das Huttopia- Camp in Versailles. (www.huttopia.com) Schlachtfelder: Vieil Armand, nahe Mulhouse an der D 431; und der Lingekopf, am Col du Wettstein bei Orbey, 20 km westlich von Colmar, an der D 11 gelegen. Die historischen Stätten bieten einen erschütternden Anblick. (www.massif-desvosges. com)
VERDUN: Die Stadt steht für mehr als 1000 Jahre deutsch-französische Geschichte: Angefangen bei Karl dem Grossen über die Erbfeindschaft bis zum bewegenden Treffen am 22. 9. 1984, als Bundeskanzler Kohl und der verstorbene Staatspräsident Mitterrand in Verdun voller Symbolik die deutsch-französische Versöhnung besiegelten. (www.verdun-tourisme.com)
SEHENSWÜRDIGKEITEN: Mulhouse: Automuseum Schlumpf: www.collection- schlumpf.com. Eisenbahnmuseum www. citedutrain.com. Paris: Eurodisney: www.disneylandparis.com; Asterixpark: www.parcasterix.fr
LITERATUR: Geo Epoche, Nr. 14: «Der Erste Weltkrieg»; «Die steinerne Front» von Ingomar Pust; «Berichte aus dem Fort Douaumont » von Kurt Fischer.
Besonders empfehlenswert: «Im Westen nichts Neues». Der Antikriegsroman von Karl Maria Remarque war unter den Nazis verboten.
FILMTIPP: Inhalt BERUHT AUF WAHREN BEGEBENHEITEN: Weihnachten 1914, an der Westfront in Nordfrankreich: Französische, britische und deutsche Truppen hoffen nach monatelanger Kriegsführung auf ein Ende des Tötens. Schliesslich verständigen sich die einfachen Soldaten auf beiden Seiden der Schützengräben auf einen inoffiziellen Waffenstillstand am Weihnachtsabend. Die Verbrüderung mit dem Feind alarmiert die Heeresleitungen: https://youtu.be/aQHXNgJXcZg
Comments