Moto Guzzi V85 TT: 3247 Kilometer, Etappen von bis zu 511 Kilometer und über 30 Pässe täglich ... Wilhelm Töff mit dem Dauertester der Zeitschrift MOTORRAD auf der wohl härtesten Prüfstrecke für Strassenmotorräder...
Mit der Moto Guzzi Moto Guzzi V85 TT auf der Swiss Alpenchallenge.
Es wartet ein aussergewöhnlicher Härtetest: Sechs Tage Kurven und nichts als Kurven. Bis zu 140 Alpenpässe, Tausende Serpentinen, Split, Regen und manchmal auch Schnee. In der Hauptrolle 2022 die Moto Guzzi V85 TT - eine Dauertestmaschine der Zeitschrift MOTORRAD. Der gesamte Test geht über die Distanz von 50.000 Kilometer und ist ist die ultimative Prüfung. Der Dauertest-Fuhrpark der Zeitschrift MOTORRAD wird im Alltag im Kurzstreckenverkehr, auf Dienstfahrten, aber gelegentlich auch auf mehrwöchigen Urlaubstrips eingesetzt. Alle besonderen Vorkommnisse, Auffälligkeiten und Kommentare der Fahrer werden im Fahrtenbuch festgehalten.
Mir wird die Ehre zuteil 3182 Kilometer zum 50.000-Kilometer-Marathon beizutragen. Am 25.8.2022 und somit genau rechtzeitig zur Swiss Alpenchallenge findet die Übergabe der Guzzi-Testmaschine in Stuttgart bei der Redaktion MOTORRAD statt. 21754 Kilometer stehen auf dem bunten Cockpitdisplay.
Die Übergabe: https://www.wilhelm-toeff.ch/post/stresstest
Die Testmaschine
Mittelklasse, V-Zweizylinder in traditioneller Guzzi-Art, luftgekühlt, Kardan, ein breiter konifizierter Lenker - eine ganz eigene Persönlichkeit. Moto Guzzi eben. Eine "klassische Reisemaschine" mit Enduro-Anleihen, die sich von der Konkurrenz absetzen will. Die Moto Guzzi V85 TT ist als Reiseenduro mit serienmässigem Gepäckträger stabil gebaut, dennoch beträgt das Trockengewicht laut Werksangaben lediglich 208 Kilogramm.
Hier gehts zur V 85 TT auf der Guzzi-Website:
An Tagen wie diesen ...
Die Moto Guzzi V85 TT auf der Swiss Alpenchallenge... was das heisst? Z.B. Knapp 11 Stunden im Sattel, 12172 Höhenmeter auf einer Tagesetappe von über 500 Kilometern und fast ausschliesslich kurvige kleine Bergstrassen... Die Härte für Mensch und Maschine:
Der Prüfstand der Zeitschrift MOTORRAD dokumentierte ja bereits ein Drehmomentloch der Moto Guzzi bei 3.000/min. Doch was heisst das auf der Alpenchallenge? Es nervt! Erst ab 4000 Touren gibt der Motor der V85 TT für den sportlich ambitionierten Tourenfahrer so etwas wie Leistung ab, über 4.500 geht dann mal was... aber nur bis 6.500/min, da erlahmt die Zugkraft auch schon wieder. Die Konsequenz: Der Guzzi-Antrieb ist die Ursache, dass dieses an und für sich überzeugende Motorrad, insgesamt wesentlich weniger souverän ist als es sein könnte. Ein echtes Ärgernis für all die anderen Guzzi-Entwicklungsabteilungen, die ihre Ingenieursarbeit tadellos erledigt haben.
Ausgerechnet beim Motor, dem Herz das die V85 TT erst zur Guzzi macht, passt konzeptionell nichts.
Viel Licht…
Mehr als Schade, denn ihr ausgewogenes, ebenso handliches wie stabiles und neutrales Fahrverhalten macht die V85 TT auf dem Kurven- und Pässemarathon der Swiss Alpenchallenge zu einem echten Genuss: Federung, Lenkverhalten, Bremsen, ABS… die Mittelklasse-Guzzi ist jeder kniffligen fahrdynamichen Situation auf der Alpenchallenge gewachsen. Zur Erinnerung: Auf Etappen über bis zu 511 Kilometern gilt es soviele Pässe in sechs Tagen unter die Räder zu nehmen wie möglich.
Zum Bummeln ist da nie Zeit. Ich lasse es, auf den Serpentinenabschnitten vom Col de Valberg hinüber zum Col de Turini auch mal richtig dynamisch angehen: Scharfes Einbremsen im ABS-Regelbereich in jede Serpentine. Und die gibt es gleich in Dutzenden in Folge auf der Alpenchallenge. Das tolle Handling, die hervorragend funktionierenden Federelemente, die gute Sitzposition, die leichtgängige Kupplung, sowie das sich für Guzzi-Verhältnisse präzise zu bedienende Getriebe überzeugen. Die Bremsleistung der Guzzi bleibt stabil, wenn kinetische Energie mit brachialgewalt in Wärme umgewandelt wird, der Druckpunkt an der 320 mmm Doppelscheibe wandert jedoch etwas.
Langstrecke? 11 Stunden im Sattel? Die Guzzi ist ein echt gutes Reisemotorrad in dieser Klasse: Aufrecht, entspannt, langstreckentauglich. Die Heizgriffe funktionieren tadellos und erzeugen auf Stufe Drei auch genügend Wärme für die kalten Tage. Eine verstellbare und grössere Scheibe habe ich mir nie gewünscht. Der Windschutz ist gut und erwies sich bei meiner Körpergrösse als nahezu ideal, weil fast verwirbelungsfrei.
350 Kilometer Reichweite sind keine Theorie und gerade auf der Alpenchallenge ein entscheidendes Plus.
Was den Verbrauch angeht, hält sich die Moto Guzzi V85 TT auch bei zügiger Fahrweise vornehm zurück.
"Das ist keine Guzzi mehr! Alles funktioniert, viel zu weichgespült." Diese Argumentation des Kollegen Harald Humke lasse ich so nicht ganz stehen. Gerade auf den strapaziösen Etappen der Swiss Alpenchallenge wünscht man sich die Guzzi so wie sie ist. Wäre da nicht ….
Der leidige Schatten
Ausgerechnet die Vitalität des 850-ccm-V2 verhagelt nun dieses gute Niveau eines bis jetzt stimmigen Mittelklasse-Konzepts der Traditionsmarke vom Comer See. Der V2 der Moto Guzzi macht keine überzeugende Figur auf der Swiss Alpenchallenge: "Viel Getue, kein Vortrieb. Das sollen 80 PS sein?". So formulierte es der MOTORRAD-Actionteam-Reiseleiter Daniel Lengwenus. Dem ist nichts hinzuzufügen…. Ausser vielleicht, dass dieser Schwachpunkt wohl auch die Akzeptanz der gemütlich cruisenden Klientel beeinträchtigt: Gerade wenn man zu Zweit und mit Gepäck in den Bergen unterwegs ist, kann man sich durch die ständige Rührerei im Getriebe für mehr Drehzahl auch nicht der ersehnten Entspannung eines vermeintlich beruhigend polternden V2 hingeben.
Gebt der V 85TT mehr Hubraum und eine Abstimmung, die eine Drehmomentwelle zum Alpenstrassensurfen aus dem Drehzahlkeller generiert!
"Mit Reifen geht die Moto Guzzi V85 TT sparsam um". Hiess es in der MOTORRAD. Klar, weil ihr schlicht der Druck aus dem Drehzahlkeller fehlt und auch eine Drehzahlorgie mit der Guzzi nicht gerade ein freudespendendes Event ist. Der Dunlop Trailmax Meridian musste auf der Challenge dennoch ordentlich Federn lassen. Die Alpenchallenge ist ein Reifenfresser: In Barcelonntte wurde es Zeit für einen ausserplanmässigen Wechsel der Gummis.
Die Dunlop-Der Pneus hinterliessen in Sachen Haftungsperformance und Vorwarnzeit am Haftungslimit einen tadellosen Eindruck – auch im Regen.
Höchste Eisenbahn auch für einen Wechsel auch der wirklich «schwäbisch Waschlappensparsam», also bis zum letzten Zehntelmillimeter genutzten Beläge der Zweikolbenbremszange am Hinterrad. Die Bremspads wurden bei Kilometerstand 24200 für 42.75 Euro getauscht, ebenso beide Pneus duch neue Dunlop Trailmax Meridian zum Gesamtpreis von 459.33 Euro ersetzt.
War’s das? Nein, noch nicht ganz. Das Handling der Koffer ist gewöhnungsbedürftig: Beim Befestigen der Boxen muss man sehr präzise sein, dass der Verriegelungsmechanismus greift. Gut: Dass sich die Koffer auch ohne Schlüssel öffnen und verschliessen lassen und mehreren sintflutartigen Platzregen widerstanden haben. Schlecht und nicht auf dem Stand der Zeit: Die Abdeckung des Kofferschlosses gegen das Verhaken mit dem Inhalt und der Schlüssel kollidiert mit dem Tragegriff des Koffers.
Ein weiterer wichtiger Punkt bei einer modernen Reisemaschine ist das Thema Schnittverbrauch, Reichweite und die Genauigkeit der Restreichweiten-Anzeige im Dashboard. Die Reichweite der Guzzi V85 TT gefällt, dank des moderaten Verbrauchs und des grossen Benzinreservoirs. Beim angezeigten Schnittverbrauch im Cockpitdisplay wird jedoch immer etwas weniger vom Bordcomputer als der tatsächliche Spritkonsum hingemogelt. Das ist verzeihbar. Aber die Restreichweitenanzeige hat das Zeug ihren Piloten unnötigerweise und trotz des grossen Tankvolumens in Unruhe zu versetzen. Beispiel? Vor der 15 Kilometer langen Anfahrt zum Col du Chat bei Aix-les-Bains, zählte die Reichweitenanzeige auf der Uferstrasse noch wie gewohnt seelenruhig und linear auf 200 Kilometer herunter, um dann auf der Bergstrecke wie bei einem Börsencrash in den "freien Fall" zu gehen und oben auf der Passhöhe mit hektisch blinkender Reserveleuchte bei 95 Kilometer zu verharren. Erst nach längerem Warten ist sie dann doch wieder auf 115 Kilometer Aktionsradius angestiegen... 85 Kilometer Reichweite auf 15 Kilometern im Nirvana verschwunden? Wer sich auf solch ein Computer-Prognoseinstrument in einem Gebiet mit wenig Tankstellen verlässt, ist verlassen.
Aus einer 15 Kilometer Pässefahrt wird ein 85 Kilometer umfassendes, schwarzes Loch im Guzzi-Restreichweiten-Algorithmus...
Das geht auch besser in der Mittelklasse. BMW macht es vor. Apropos TFT-Display. Der Nachtmodus dürfte für Regenfahrten im Dunkeln zu hell sein. Und das Menüdesign wirkt stillos und unpassend zur Traditionsmarke. Noch was? Das stete Blinken des teildeaktivierten Tempomaten – ein grün pulsierendes Symbol im Dashboard - es nervt und lenkt die Wahrnehmung des Fahrers besonders nach dem Abbiegen unnötig auf den Status des im Betrieb ebenfalls grün blinkenden Fahrtrichtungsanzeigers. Denn auch die Haptik der Schalter der Lenkerarmaturen der V85 TT ist nicht ohne Tadel: "Ist der Blinker jetzt wirklich aus und der Tempomat aktiviert"? Die Schalter geben zu wenig Feedback bei der Bedienung.
Fazit:
Durchgeknallt - 3247 Kilometer und mehr als 100 Alpenpässe später: Die Italiener hätten alles richtig gemacht, wäre da bloss nicht dieser Motor… Der Wunsch meines für die Traditionsmarke schlagenden Herzens: Gebt der V85 TT 150 ccm mehr Hubraum und (oder wenigstens) eine neue Motor-Abstimmung, die eine Drehmomentwelle zum Alpenstrassensurfen aus dem Drehzahlkeller generiert. So hätte die Marke mit dem Adler mit Sicherheit eine der genialsten Reisemaschinen der Mittelklasse im Programm.
Technische Daten
Motor
Luft-/ölgekühlter 90°-V2-Motor, längs eingebaut, Hubraum 853 cm³, Leistung 59 kW (80 PS) bei 7750 U/min, max. Drehmoment 80 Nm bei 5000 U/min, optional Führerscheinklasse A2 ab Händler mit 35 kW/48 PS, 6-Gang-Getriebe, Kardan
Fahrwerk
Stahl-Gitterrohrrahmen, vorne USD-Telegabel, Ø 41 mm, hinten Zweiarm-Leichtmetallgussschwinge mit innenliegender Kardanwelle und rechtsseitig direkt angelenktem Monofederbein, Federbasis und Zugstufendämpfung vorne unten hinten einstellbar
Bremsen
Doppelscheibenbremse 320 mm mit radial montierter Vierkolben-Bremse, hinten Scheibenbremse 260 mm mit Zweikolben-Schwimmsattel, ABS, Reifen vorne 110/80 R 19, hinten 150/70 R 17
Masse und Gewichte
Radstand 1530 mm, Bodenfreiheit 210 mm, Sitzhöhe 830 mm (wahlweise 810 oder 850 mm), Gewicht vollgetankt 229 kg, Zuladung 219 kg, zul. Gesamtgewicht 448 kg, Tank 23 l, Verbrauch auf der Swiss Alpenchallenge (sportliche Fahrweise) 5,17 l/100 km
Fahrassistenzsysteme
2-Kanal-ABS; Traktionskontrolle; Mapping mit drei Fahrmodi: Street, Regen, Offroad; Tempomat
Preis
12.599 Euro
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